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Betriebsrat Erneute Betriebsratsanhörung nach Änderung des Sachverhalts

Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 16.9.2015 – 17 Sa 48/14

Die Betriebsratsanhörung ist zu wiederholen, wenn sich vor Ausspruch der Kündigung der dem Betriebsrat im ersten Anhörungsverfahren unterbreitete Sachverhalt in wesentlichen Punkten zugunsten des Arbeitnehmers geändert hat. Eine solche wesentliche Änderung ist jedenfalls dann gegeben, wenn bei einer auf zahlreiche einzelne Vorwürfe gestützten Kündigung dem Betriebsrat mitgeteilt wird, der Arbeitnehmer habe sich auf eine schriftliche Anhörung nicht geäußert, und der Arbeitnehmer kurz darauf im Rahmen einer Verhandlung vor dem Integrationsamt eine umfangreiche schriftliche Stellungnahme abgibt.

Die Parteien streiten um eine fristlose, hilfsweise ordentliche Kündigung der Beklagten vom 13.08.2013, eine fristlose Kündigung der Beklagten vom 26.09.2013 und um eine vorsorgliche ordentliche Kündigung der Beklagten vom 08.10.2013. Der Kläger ist seit dem 01.04.1996 bei der Beklagten beschäftigt, bei der ein Betriebsrat gebildet ist. Auf Antrag des Klägers vom 28.06.2013 wurde dieser mit Bescheid vom 03.09.2013 mit einem Grad der Behinderung von 70 als schwerbehinderter Mensch anerkannt.

Der Kläger nutzte Internet und E-Mail in einem zwischen den Parteien streitigen Umfang während der Arbeitszeit privat. Im Zeitraum Februar 2012 bis Januar 2013 wurde der Dienstwagen des Klägers in 14 Fällen mehr als mit dem vom Hersteller angegebenen Füllvolumen von 93 l betankt. Am 13.06.2013 ließ die Beklagte das maximale Tankvolumen bei einem identischen Modell überprüfen und stellte fest, dass durch „unübliches“ Tanken (langsame Fließgeschwindigkeit des Kraftstoffes, 15maliges Betätigen der Zapfpistole) größere Mengen getankt werden können. Mit dem 08.08.2013 hörte die Beklagte den Betriebsrat zu einer beabsichtigten außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung an, u.a. teilte sie mit, dass der Kraftstofftank eine Kapazität von 93 l habe und im untersuchten Zeitraum 14 Betankungen von mehr als 93 l vorlägen. Was die Privatgeschäfte während der Arbeitszeit („Arbeitszeitbetrug“) beträfe, so sei dies ein Dauerzustand gewesen.

Mit Schreiben vom 13.08.2013 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos, vorsorglich hilfsweise ordentlich zum 31.03.2014.

Ebenfalls mit Schreiben vom 13.08.2013 hörte die Beklagte den Kläger zu verschiedenen Sachverhalten an mit Bitte um Stellungnahme bis 03.09.2013. Mit Schreiben vom 29.08.2013, das bei der Beklagten spätestens am 06.09.2013 einging, ließ der Kläger über seinen Rechtsanwalt mitteilen, dass er ernsthaft erkrankt sei, daher keine Stellungnahme abgeben könne und einen Antrag auf Feststellung von Behinderungen gestellt habe. Mit Schreiben vom 09.09.2013 hörte die Beklagte den Betriebsrat zu einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Tat-, hilfsweise Verdachtskündigung an unter der Angabe, dass der Kläger sich zu den Verdachtsmomenten nicht geäußert habe. Die Kündigung werde gestützt auf exzessive private Tätigkeiten während der Arbeitszeit, der zweckfremden Nutzung von Betriebsmitteln und des Tankbetrugs. Ferner verwies die Beklagte auf das Schreiben des Klägers vom 06.09.2013. Sie werde vorsorglich die Zustimmung des Integrationsamts zu einer gegebenenfalls neu auszusprechenden Kündigung einholen. Mit Ablauf des 03.09.2013 wisse sie aber, dass der Kläger dem Verdacht nichts entgegensetzen könne oder wolle.

Mit Schreiben vom 10.09.2013 übermittelte der Rechtsanwalt des Klägers der Beklagten den Bescheid vom 03.09.2013 über die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers. Am 11.09.2013 beantragte die Beklagte beim Integrationsamt die Zustimmung zur außerordentlichen und zur ordentlichen Kündigung.

Am 16.09.2013 hörte die Beklagte den Betriebsrat erneut wegen der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers zu einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Tat-, hilfsweise Verdachtskündigung an. Am 19.09.2013 fand ein Termin zur mündlichen Anhörung vor dem Integrationsamt statt, in dessen Verlauf der Kläger der Beklagten eine 26 Seiten umfassende schriftliche Stellungnahme übergeben ließ nebst eines Privatgutachtens, wonach unter besonderen Bedingungen 102,42 l in das Fahrzeug des Klägers eingefüllt wurden.

Mit Telefax vom 25.09.2013 erteilte das Integrationsamt die Zustimmung zur außerordentlichen fristlosen Kündigung. Mit Schreiben vom 26.09.2013 erklärte die Beklagte die vorsorgliche fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Mit Bescheid vom 22.10.2013 erteilte das Integrationsamt die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung. Mit Schreiben vom 28.10.2013 erklärte die Beklagte die vorsorgliche ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.06.2014. Der Kläger wendet sich nun gegen die ausgesprochenen Kündigungen.

Das Landesarbeitsgericht hat sämtliche Kündigungen für unwirksam erachtet. Die Kündigung vom 13.08.2013 scheitere an der mangelnden Zustimmung des Integrationsamts vor Ausspruch der Kündigung. Mit Bescheid vom 03.09.2013 wurde dem Kläger ein Grad der Behinderung von 70 seit dem 28.06.2013 zuerkannt. Er war daher bei Ausspruch der Kündigung vom 13.08.2013 als schwerbehinderter Mensch anerkannt. Er habe das Recht, sich auf den Sonderkündigungsschutz zu berufen, nicht verwirkt. Der Arbeitnehmer muss sich, wenn er sich den Sonderkündigungsschutz nach § 85 SGB IX (Sozialgesetzbuch) erhalten will, nach Zugang der Kündigung innerhalb einer angemessenen Frist, die 3 Wochen beträgt, gegenüber dem Arbeitgeber auf seine bereits festgestellte oder zur Feststellung beantragte Schwerbehinderteneigenschaft berufen. Unterlässt der Arbeitnehmer die entsprechende Mitteilung, so hat er den besonderen Kündigungsschutz verwirkt. Der Kläger hat in der Klageschrift mitgeteilt, dass er einen Antrag auf Anerkennung als schwerbehinderter Mensch gestellt habe. Diese Klage ging am 30.08.2013 beim Arbeitsgericht ein und wurde innerhalb üblicher Bearbeitungs- und Postlaufzeiten am 09.09.2013 zugestellt. Erfolgt eine Berufung auf die Schwerbehinderung oder den diesbezüglichen Antrag gegenüber dem Arbeitgeber zugleich mit der Zustellung der fristgerecht erhobenen Klage, ist sie jedenfalls nicht illoyal verspätet.

Auch die außerordentliche fristlose Kündigung vom 26.09.2013 sei unwirksam. Es fehle an einer ordnungsgemäßen Betriebsratsanhörung. Der Arbeitgeber hat gemäß § 102 Abs. 1 S. 2 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) dem Betriebsrat hinreichend ausführlich die Gründe für die Kündigung mitzuteilen. Dies beinhalte auch den Arbeitnehmer entlastende Umstände. Insofern hätte die Beklagte dem Betriebsrat mitteilen müssen, dass sie selbst festgestellt hat, dass das Fahrzeug des Klägers mit mehr als 93 l betankt werden könne. Auch hätte die Beklagte dem Betriebsrat nachträglich die Stellungnahme des Klägers aus dem Verfahren vor dem Integrationsamt mitteilen müssen. Auch die ordentliche Kündigung vom 28.10.2013 sei unwirksam. Ihrem Ausspruch ging die Betriebsratsanhörung vom 16.09.2013 voraus, die nicht ordnungsgemäß gewesen sei.

Fazit:

Eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung ist gemäß § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG unwirksam. Sie ist nicht nur unwirksam, wenn der Arbeitgeber gekündigt hat, ohne den Betriebsrat überhaupt zu beteiligen, sondern auch dann, wenn er ihn nicht richtig beteiligt hat, vor allem seiner Unterrichtungspflicht nicht ausführlich genug nachgekommen ist. Der Arbeitgeber muss dem Betriebsrat die Umstände mitteilen, die seinen Kündigungsentschluss tatsächlich bestimmt haben. Schildert der Arbeitgeber dem Betriebsrat bewusst und gewollt unrichtige oder unvollständige – und damit irreführende – Kündigungssachverhalte, ist die Anhörung unzureichend und die Kündigung unwirksam.

Zu einer vollständigen und wahrheitsgemäßen Information gehört auch die Unterrichtung über dem Arbeitgeber bekannte und den Arbeitnehmer entlastende Tatsachen, die für eine Stellungnahme des Betriebsrats möglicherweise bedeutsam sind, weil sie gegen eine Kündigung sprechen können.

Der Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat gebietet es, dass der Arbeitgeber dem Betriebsrat die entlastenden Umstände auch dann mitteilt, wenn er von ihnen erst nach Beginn des Anhörungsverfahrens und vor Ausspruch der Kündigung Kenntnis erlangt. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, das Anhörungsverfahren zu wiederholen, wenn sich vor Ausspruch der Kündigung der dem Betriebsrat im ersten Anhörungsverfahren unterbreitete Sachverhalt in wesentlichen Punkten zugunsten des Arbeitnehmers geändert hat, wie dies nach Vorlage der umfassenden Stellungnahme im vorliegenden Fall hätte erfolgen müssen.

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