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EuGH: Ein Arbeitnehmer darf seine erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nicht automatisch deshalb verlieren, weil er keinen Urlaub beantragt hat

Weist der Arbeitgeber jedoch nach, dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der Sachlage darauf verzichtet hat, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, nachdem er in die Lage versetzt worden war, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen, steht das Unionsrecht dem Verlust dieses Anspruchs und – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – dem entsprechenden Wegfall einer finanziellen Vergütung nicht entgegen

Herr K. absolvierte als Rechtsreferendar beim Land Berlin seinen juristischen Vorbereitungsdienst. Während der letzten Monate nahm er keinen bezahlten Jahresurlaub. Nach dem Ende des Vorbereitungsdienstes beantragte er eine finanzielle Vergütung für die nicht genommenen Urlaubstage. Das Land lehnte den Antrag ab. Herr K. focht daraufhin die Ablehnung vor den deutschen Verwaltungsgerichten an.

Herr S. war bei der MaxPlanck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften beschäftigt. Etwa zwei Monate vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses bat die Max-Planck-Gesellschaft Herrn S., seinen Resturlaub zu nehmen (ohne ihn jedoch zu verpflichten, den Urlaub zu einem von ihr festgelegten Termin zu nehmen). Herr S. nahm nur zwei Urlaubstage und beantragte die Zahlung einer Vergütung für die nicht genommenen Urlaubstage, was die Max-Planck-Gesellschaft ablehnte. Herr S. wandte sich daraufhin an die deutschen Arbeitsgerichte.

Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Deutschland) und das Bundesarbeitsgericht (Deutschland) möchten wissen, ob das Unionsrecht einer nationalen Regelung¹

¹§ 9 der Verordnung über den Erholungsurlaub der Beamten und Richter vom 26.04.1988 (GVBl. 1988, S. 846) bzw. § 7 des Bundesurlaubsgesetzes vom 08.01.1963 (BGBl. 1963, S. 2) in der Fassung vom 07.05.2002 (BGBl. 2002 I S. 1529).

entgegensteht, die den Verlust des nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs und den Verlust der finanziellen Vergütung für diesen Urlaub vorsieht, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub nicht vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses beantragt hat.

Sie haben den Gerichtshof daher ersucht, in diesem Kontext das Unionsrecht²

²Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) sowie die Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

auszulegen, wonach der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden darf.

Mit seinen Urteilen von heute entscheidet der Gerichtshof, dass das Unionsrecht es nicht zulässt, dass ein Arbeitnehmer die ihm gemäß dem Unionsrecht zustehenden Urlaubstage und entsprechend seinen Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für den nicht genommenen Urlaub automatisch schon allein deshalb verliert, weil er vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses (oder im Bezugszeitraum) keinen Urlaub beantragt hat.

Diese Ansprüche können nur untergehen, wenn der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber z. B. durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt wurde, die fraglichen Urlaubstage rechtzeitig zu nehmen, was der Arbeitgeber zu beweisen hat.

Der Arbeitnehmer ist nämlich als die schwächere Partei des Arbeitsverhältnisses anzusehen. Er könnte daher davon abgeschreckt werden, seine Rechte gegenüber seinem Arbeitgeber ausdrücklich geltend zu machen, da insbesondere die Einforderung dieser Rechte ihn Maßnahmen des Arbeitgebers aussetzen kann, die sich zu seinem Nachteil auf das Arbeitsverhältnis auswirken können.

Ist der Arbeitgeber hingegen in der Lage, den ihm insoweit obliegenden Beweis zu erbringen, dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der Sachlage darauf verzichtet hat, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, nachdem er in die Lage versetzt worden war, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen, steht das Unionsrecht dem Verlust dieses Anspruchs und – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – dem entsprechenden Wegfall der finanziellen Vergütung für den nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub nicht entgegen.

Jede Auslegung der fraglichen Unionsvorschriften, die den Arbeitnehmer dazu veranlassen könnte, aus freien Stücken in den betreffenden Bezugs- oder zulässigen Übertragungszeiträumen keinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, um seine Vergütung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu erhöhen, wäre nämlich mit den durch die Schaffung des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub verfolgten Zielen unvereinbar. Diese bestehen u. a. darin, zu gewährleisten, dass der Arbeitnehmer zum wirksamen Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit über eine tatsächliche Ruhezeit verfügt.

Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass die vorstehenden Grundsätze unabhängig davon gelten, ob es sich um einen öffentlichen Arbeitgeber (wie das Land Berlin) oder einen privaten Arbeitgeber (wie die Max-Planck-Gesellschaft) handelt.³

³Zwar kann eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist. Folglich kann selbst eine klare, genaue und nicht von Bedingungen abhängige Bestimmung einer Richtlinie, mit der dem Einzelnen Rechte gewährt oder Verpflichtungen auferlegt werden sollen, als solche im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen (wie dem Rechtsstreit zwischen Herrn S. und der Max-PlanckGesellschaft), keine Anwendung finden. Das Recht jeder Arbeitnehmerin und jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub ist jedoch nicht nur in einer Richtlinie verankert, sondern auch als Grundrecht in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Dieses Grundrecht geht schon seinem Wesen nach mit einer entsprechenden Pflicht des Arbeitgebers einher, nämlich der Pflicht, bezahlten Jahresurlaub oder eine Vergütung für den bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub zu gewähren. Damit nicht im Einklang stehende nationale Rechtsvorschriften sind erforderlichenfalls unangewendet zu lassen.

HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.

(Quelle: Pressestelle EuGH Curia.de)

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