Grenzen des "faktischen Überholverbots"
Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm vom 04.02.2014 – 9 U 149/13
Der Umstand, dass ein Überholvorgang nur unter Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit möglich ist, begründet kein so genanntes faktisches Überholverbot.
Im Mai 2013 befuhr der 28 Jahre alte Kläger mit seinem Motorrad die H.-Straße in S. Im Bereich der Parkplatzein- und -ausfahrt eines an der linken Straßenseite gelegenen Supermarktes überholte der Kläger ein vor ihm mit ca. 50 km/h fahrendes Fahrzeug, wobei er die innerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritt. Zu diesem Zeitpunkt bog der 49 Jahre alte Beklagte mit seinem Pkw vom Parkplatz des Supermarktes nach rechts auf die H.-Straße und kollidierte mit dem ihm entgegenkommenden, bereits überholenden Motorrad des Klägers. Der Kläger zog sich Verletzungen an seinen linken Sprunggelenk und seiner rechten Ferse zu, sein Motorrad erlitt einen Totalschaden. Vom Beklagten hat er 100%igen Schadensersatz verlangt. Die Klage hatte Erfolg. Das Oberlandesgericht Hamm hat dem Kläger unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils des LG Hagen EUR 8.000,00 Schmerzensgeld und ca. EUR 11.500,00 materiellen Schadensersatz zugesprochen. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts müsse sich derjenige, der unter Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit überholt, im Falle eines Unfalls nur dann einen Verstoß gegen ein so genanntes "faktisches Überholverbot" vorhalten lassen, wenn sich der Unfall beim Einhalten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit nicht ereignet hätte. Außerdem schütze ein "faktisches Überholverbot" nur die von einem gesetzlichen Überholverbot geschützten Verkehrsteilnehmer und nicht auch den von einer Parkplatzausfahrt in die Straße einbiegenden Verkehrsteilnehmer. Nach dem eingeholten unfallanalytischen Sachverständigengutachten sei allein der Beklagte für den Unfall verantwortlich. Nach der Straßenverkehrsordnung habe der Beklagte bei der Einfahrt vom Parkplatz auf die Straße die Gefährdung des Klägers als Teilnehmer des fließenden Verkehrs ausschließen müssen. Diesen Anforderungen habe er nicht genügt, bereits nach einem Anfahrtsweg von 6 m sei sein Fahrzeug mit dem Motorrad des Klägers kollidiert. Den Kläger treffe demgegenüber kein Mitverschulden, das bei der Haftungsabwägung zu berücksichtigen sei. Zu Beginn seines Überholvorganges sei das Anfahren des Beklagten für ihn nicht zu erkennen gewesen. Dass er nur unter Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h habe überholen können, sei nicht zu seinen Lasten zu berücksichtigen. Nach der Straßenverkehrsordnung begründe dies kein gesetzliches Überholverbot, es stellte lediglich einen Geschwindigkeitsverstoß dar. Dieser begründe nur dann ein "faktisches" Überholverbot, wenn sich der Unfall beim Einhalten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit nicht ereignet hätte. Von einem derartigen Verlauf sei aber im vorliegenden Fall nach dem eingeholten Sachverständigengutachten nicht auszugehen. Vielmehr sei der Geschwindigkeitsverstoß des Klägers für den Unfall nicht ursächlich geworden.
Fazit:
Das Oberlandesgericht Hamm stellt klar, dass ein Mitverschulden im Rahmen eines Verkehrsunfalls nur dann in Betracht zu ziehen ist, wenn der Verkehrsverstoß auch kausal für das Unfallereignis ist. Hätte sich der Unfall bei Einhaltung der Höchstgeschwindigkeit im vorliegenden Fall nicht ereignet, hätte sich der Motorradfahrer ein Mitverschulden anrechnen lassen müssen.