EUGH: Zur Netzneutralität
Der Gerichtshof legt erstmals die Unionsverordnung aus, mit der die „Neutralität des Internets“ festgeschrieben wird.
Die Erfordernisse des Schutzes der Rechte der Internetnutzer und der nichtdiskriminierenden Behandlung des Datenverkehrs stehen dem entgegen, dass ein Internetzugangsanbieter bestimmte Anwendungen und Dienste bevorzugt behandelt, indem er ihre Nutzung zum „Nulltarif“ anbietet, die Nutzung der übrigen Anwendungen und Dienste dagegen blockiert oder verlangsamt.
Die in Ungarn niedergelassene Gesellschaft Telenor stellt u. a. Internetzugangsdienste bereit. Zu den Dienstleistungen, die sie ihren Kunden anbietet, gehören zwei Pakete für einen bevorzugten Zugang (sog. „Nulltarif“), die die Besonderheit aufweisen, dass der durch bestimmte Dienste und Anwendungen generierte Datenverkehr nicht auf den Verbrauch des von den Kunden gebuchten Datenvolumens angerechnet wird. Außerdem können die Kunden diese speziellen Anwendungen und Dienste nach der Ausschöpfung ihres Datenvolumens weiterhin uneingeschränkt nutzen, während der Datenverkehr bei den übrigen verfügbaren Anwendungen und Diensten dann blockiert oder verlangsamt wird.
Nachdem die ungarische Behörde für Medien und Kommunikation zwei Verfahren eingeleitet hatte, um zu prüfen, ob diese beiden Pakete mit der Verordnung 2015/2120 über Maßnahmen zum Zugang zum offenen Internet¹ vereinbar sind, erließ sie zwei Bescheide, in denen sie die Auffassung vertrat, dass die Pakete gegen die in Art. 3 Abs. 3 der Verordnung enthaltene Pflicht zur gleichen und nichtdiskriminierenden Behandlung des Verkehrs verstießen und dass Telenor dies abstellen müsse. ¹ Verordnung (EU) 2015/2120 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.11.2015 über Maßnahmen zum Zugang zum offenen Internet und zur Änderung der Richtlinie 2002/22/EG über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten sowie der Verordnung (EU) Nr. 531/2012 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Union (ABl. 2015, L 310, S. 1)
Der mit zwei Klagen von Telenor befasste Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn) hat den Gerichtshof um Vorabentscheidung über die Auslegung und Anwendung der Abs. 1 und 2 von Art. 3 der Verordnung 2015/2120 – die den Endnutzern von Internetzugangsdiensten eine Reihe von Rechten² zuerkennen und den Anbietern solcher Dienste den Abschluss von Vereinbarungen sowie Geschäftspraktiken verbieten, die die Ausübung dieser Rechte einschränken – und ihres Art. 3 Abs. 3 – der eine allgemeine Pflicht zur gleichen und nichtdiskriminierenden Behandlung des Datenverkehrs aufstellt – ersucht. ²Recht der Endnutzer, Anwendungen, Inhalte und Dienste abzurufen und sie zu nutzen, aber auch Anwendungen, Inhalte und Dienste bereitzustellen sowie Endgeräte ihrer Wahl zu nutzen.
In seinem Urteil vom 15.09.2020 hat der Gerichtshof (Große Kammer) erstmals die Verordnung 2015/2120 ausgelegt, die den tragenden Grundsatz der Offenheit des Internets (auch als „Netzneutralität“ bezeichnet) festschreibt.
Erstens hat der Gerichtshof hinsichtlich der Auslegung von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung 2015/2120 in Verbindung mit ihrem Art. 3 Abs. 1 darauf hingewiesen, dass nach der letztgenannten Bestimmung die Rechte, die sie den Endnutzern von Internetzugangsdiensten zuerkennt, „über ihren Internetzugangsdienst“ ausgeübt werden sollen, während die erstgenannte Bestimmung verlangt, dass die Ausübung dieser Rechte durch einen solchen Dienst nichteingeschränkt wird. Überdies ergibt sich aus Art. 3 Abs. 2 der Verordnung, dass die Dienste eines Internetzugangsanbieters von den nationalen Regulierungsbehörden³ unter der Kontrolle der zuständigen nationalen Gerichte anhand dieses Erfordernisses zu bewerten sind, unter Berücksichtigung sowohl der Vereinbarungen zwischen dem Anbieter und den Endnutzern als auch der Geschäftsgepflogenheiten des Anbieters. ³Auf der Grundlage von Art. 5 der Verordnung 2015/2120
In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof, im Anschluss an eine Reihe allgemeiner Ausführungen zu den in der Verordnung 2015/2120 enthaltenen Begriffen „Vereinbarungen“, „Geschäftspraxis“ und „Endnutzer“¹, in Bezug auf Vereinbarungen, mit denen die Kunden Pakete abonnieren, die aus einer Kombination eines „Nulltarifs“ mit Maßnahmen zur Blockierung oder Verlangsamung des Datenverkehrs bei der Nutzung der übrigen, nicht dem „Nulltarif“ unterliegenden Anwendungen und Dienste bestehen, entschieden, dass der Abschluss solcher Vereinbarungen geeignet ist, die Ausübung der Rechte der Endnutzer im Sinne von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung auf einem erheblichen Teil des Marktes einzuschränken . ¹Unter diesen Begriff fallen alle natürlichen oder juristischen Personen, die einen öffentlich zugänglichen elektronischen Kommunikationsdienst in Anspruch nehmen oder beantragen. Überdies fallen unter ihn sowohl natürliche oder juristische Personen, die Internetzugangsdienste nutzen oder beantragen, um Inhalte, Anwendungen und Dienste abzurufen, als auch diejenigen, die mittels des Internetzugangs Inhalte, Anwendungen und Dienste bereitstellen.
Derartige Pakete können nämlich die Nutzung der bevorzugt behandelten Anwendungen und Dienste erhöhen und zugleich die Nutzung der übrigen verfügbaren Anwendungen und Dienste in Anbetracht der Maßnahmen, mit denen der Anbieter von Internetzugangsdiensten ihre Nutzung technisch erschwert oder sogar unmöglich macht, verringern. Zudem kann, je größer die Zahl der Kunden ist, die solche Vereinbarungen abschließen, die kumulierte Auswirkung dieser Vereinbarungen angesichts ihrer Tragweite umso mehr zu einer erheblichen Einschränkung der Ausübung der Rechte der Endnutzer führen oder sogar den Kern dieser Rechte untergraben.
Zweitens hat der Gerichtshof zur Auslegung von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung 2015/2120 ausgeführt, dass es zur Feststellung einer Unvereinbarkeit mit dieser Bestimmung keiner Bewertung der Auswirkungen von Maßnahmen, mit denen der Verkehr blockiert oder verlangsamt wird, auf die Ausübung der Rechte der Endnutzer bedarf. Ein solches Erfordernis ist nämlich in dieser Bestimmung für die Beurteilung der Einhaltung der darin normierten allgemeinen Pflicht zur gleichen und nichtdiskriminierenden Behandlung des Verkehrs nicht vorgesehen. Darüber hinaus hat der Gerichtshof entschieden, dass Maßnahmen, mit denen der Verkehr blockiert oder verlangsamt wird, als solche als mit der genannten Bestimmung unvereinbar anzusehen sind, da sie nicht auf objektiv unterschiedlichen Anforderungen an die technische Qualität der Dienste bei speziellen Verkehrskategorien, sondern auf kommerziellen Erwägungen beruhen. Folglich verstoßen Pakete wie die der Kontrolle des vorlegenden Gerichts unterworfenen im Allgemeinen sowohl gegen Abs. 2 von Art. 3 der Verordnung 2015/2120 als auch gegen dessen Abs. 3; bei ihrer Prüfung können die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte der letztgenannten Bestimmung Vorrang einräumen.
(Quelle: Pressestelle des Europäischen Gerichtshofs -CURIA)